Über die Schuld

Ich erinnere mich noch genau an das Gesicht des Hausmeisters. Ich hatte, mit klopfendem Herzen weil verboten, eine der dicken weißen Beeren von einem der Sträucher auf dem Schulhof gepflückt, mit einem Stampfer zum Knallen gebracht, und er hatte es gesehen. Zehn Pfennig Strafe sollte ich nun zahlen. Ich hatte aber keine zehn Pfennig, denn es war 1986, ich war acht Jahre alt, und mein erstes Taschengeld, fünf Mark im Monat, sollte ich erst Jahre später erhalten. Mir blieb also nichts als die doppelte Scham: für das Brechen des Verbots und das Nichtzahlenkönnen der Strafe.
Diese Scham sitzt bis heute, sie ist noch immer ungebrochen wahr; das weiß ich, weil ich sie vor ein paar Tagen, also dreißig Jahre später, wiedergetroffen habe, bei einem Spaziergang, am selben Ort, unverändert und unverblasst.

Es gibt Orte, Stimmen, Erinnerungen, die nichts anderes als Momentaufnahmen der Schuld und der Scham geworden sind und es bleiben werden, ein Leben lang, als Teil eines nie endenden Prozesses, der für immer stillsteht und doch gleichzeitig voranschreitet, rücksichtslos und unbarmherzig. Wenn ich ihnen begegne, weiss ich, dass ich niemals wirklich erwachsen sein werde; wenn ich ihnen begegne, zwingen sie mich, davon zu erzählen, wie es war, damals, als Kind, und dass ich nicht weiß, wie man sich jemals davon erholen kann. Doch wo ich die Hoffnung auf Läuterung sehe, wo in Wahrheit ein Geständnis ist, hört mein Gegenüber bloß eine Anekdote.

Vergangenheit ist unerbittlich. Nicht umsonst ziehen viele Menschen fort von den Orten, an denen sie aufgewachsen sind. Mit jedem Kilometer, den sie zwischen sich und ihre Kinderjahre bringen, wächst der Grad der wohlgesonnenen Erinnerung an das Damals — jedoch nur, weil ihnen diese Momentaufnahmen nicht mehr wie Gefühlspolaroids vom Kühlschrank des Verschuldethabens entgegenstarren, sie die Orte nicht mehr fühlen müssen; Orte wie die Straßenecke dort vorne, an der ich damals bemerkte, dass man mir den fein zusammengefalteten Hundert-Mark-Schein für den Schulausflug gestohlen hatte, und ich wusste, meine Mutter würde mir nicht glauben, weil ich doch letztens erst heimlich Münzen aus der Spardose meines Vaters genommen hatte, um mir einen Lamy-Füller, der mit der feinen Schreibspitze, zu kaufen.

Schuld und Scham wohnen nicht im Kopf, sondern im Bauch. Diese Orte, diese Momente, dieses Damals, in dem alles anders wurde, bleibt in uns, ein Leben lang. Es atmet und wächst, und am Ende bezahlt man Jahrzehnte später noch für die Münzen, die man genommen hat; für die Einsamkeit im Blick der Mutter, als der Vater sie des Stehlens bezichtigte und sie nichts sagte. Aus Liebe oder Enttäuschung oder nackter, ratloser Sprachlosigkeit.

Es gibt da diese Bushaltestelle, von der aus man die Stelle am Bordstein sieht, an der ein Kind, meine Kindergartenfreundin, in diesem Damals unter einen Lastwagen geriet, irgendwie. Es ist, objektiv betrachtet, eine Bordsteinkante wie tausende andere, und doch ist einzig und allein sie gleichzeitig auch die Stimme der Mutter dieses Mädchens, das heute so alt wäre wie ich und vielleicht noch immer so schönes blondes Haar hätte; eine Stimme, die nichts mehr erschüttern kann, weil sie damals zu Boden ging und seitdem nicht mehr aufgestanden ist, eine Stimme, die mir Angst macht, aufzuschauen, weil sie mit jedem Wort auf diesen Ort zeigt und sagt: Damals, in jenem anderen Leben, hatte ich eine kleine Tochter, doch plötzlich war sie nicht mehr da; eine Stimme, die besser als alle anderen weiß, wie schrecklich Whiskey und Zigaretten schmecken; eine Stimme, die immer kurz verstummt, wenn ich an der Kasse vor ihr stehe, die mich dann von allen Seiten abtastet und durchdringt und mich zwingt, ihr den Rücken zuzudrehen, immer, sicherheitshalber, damit sie diesen Ort, der sich in mir auftut wie ein Abgrund, nicht sehen kann, damit sie nicht merkt, wie sich etwas in mir dafür schämt, noch am Leben zu sein; damit ich nicht sehen muss, wie die Erinnerung an dieses Kind, dessen Namen ich einfach vergessen habe und das doch so oft meine Hand hielt, zu dieser Mutter kommt: die Erinnerung an das, wie alles hätte sein können, in diesem anderen Leben.

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