Eine Frage der Ebene

1

An dem Tag, als Sammy ins Koma fiel, trat die Ethikkommission zusammen.
Das Medienspektakel hatte immense Ausmaße angenommen; nur mit Mühe konnte man die Journalisten davon abhalten, das Krankenhaus zu stürmen.
Dr. Sandbergh hatte sich deshalb schon in den ersten Tagen angewöhnt, das Haus nur noch durch den Notfalleingang zu betreten. Die Blicke des Krankenhauspersonals ignorierte er, den Aufzug hatte er zu vermeiden gelernt.

Guten Morgen, Sammy, dachte er, als er das Zimmer betrat. Darüber, dass die örtliche Kontrolleinheit die Wache vor der Tür schon wieder abgezogen hatte, wollte er jetzt nicht nachdenken. Stattdessen kontrollierte er die Anzeigen der überholten Geräte, die man ihm zur Verfügung gestellt hatte. Alles im Normbereich. Der Katheterbeutel musste gewechselt werden. Sandbergh würde Schwester Williams Bescheid geben, wenn er ging. Halt durch, mein Junge. Er sah auf den ruhig atmenden Körper, nahm Sammys Hand.
„Immer weiter atmen, hörst du? Immer weiter atmen.“ Sie atmeten zusammen. Ein. Aus. Ein. Aus. Sandbergh hielt nichts von Esoterik. Es ging ihm um Verbundenheit auf einer ganz anderen Ebene. Eine Verbundenheit, von der er vor seinen Studien, vor Sammy, nichts geahnt hatte. Er schreckte hoch, als ihn jemand an der Schulter berührte.
„Schwester Williams!“ Die Tür hatte er nicht gehört, ebenso wenig die dicke Krankenschwester, die nun hinter ihm stand.
„Live und in Farbe“, lachte sie, während sie sich am Katheterbeutel zu schaffen machte. „Dachte ich’s mir doch. Gut, dass ich früher hier bin“, sagte sie und hielt den vollen Beutel hoch. „Ich weiß nicht, was ich der Tagschicht noch sagen soll. Patient ist Patient.“ Sie schüttelte den Kopf und sah Sandbergh an. „Ist alles in Ordnung? Haben die Typen von der Kommission etwa schon entschieden?“ Sie ließ den Beutel sinken.
„Nein, nein. Noch nicht. Nicht, bevor meine Anhörung war.“ Schon der Gedanke daran zog Sandbergh den Magen zusammen. Er hatte keine Ahnung, was er der Kommission sagen sollte.

Er sah der Schwester dabei zu, wie sie routiniert Gegenstände von hier nach da verschob, dann kurz innehielt und Sammy über die Wange strich. „Michelle, wieso tun Sie das alles für ihn?“ Sandbergh sah in Sammys Gesicht. Die Augen waren geschlossen und ruhig. Da war kein Traum. Nichts. Nur konvexes Stillleben, schwarz wie die Nacht. „Selbst im Institut gibt es Stimmen, die meinen, man solle es nicht übertreiben. Und dann komme ich hierher und sehe Sie. Wie Sie sich kümmern. So als würden Sie keinen Gedanken daran verschwenden, was Sie hier eigentlich tun. Manchmal halten Sie sogar seine Hand. Ich habe Sie dabei gesehen.“ Schwester Williams antwortete nicht sofort. Sie befestigte einen leeren Beutel, justierte die Kochsalzlösung am rostigen Gestell und sah auf ihre Uhr. Dann setzte sie sich an die andere Seite des Bettes, sah Sammy an und ergriff dessen rechte Hand.
„Als ich noch klein war, erzählte mir meine Großmutter von ihrer Schwester. Ich habe sie nie selbst kennen gelernt, sie ist am dreißigsten Geburtstag meiner Großmutter gestorben. Laneesha, so war ihr Name. Altmodisch, nicht?“ Sie lächelte. „Sie wurde vier Jahre vor Inkrafttreten der obligatorischen Pränat-Tests geboren und hatte eine dieser Krankheiten, die es hier damals noch gab. Die Gene spielten verrückt, und dann hatte sie eben ein Chromosom drei Mal.“
„Edwards Syndrom?“, fragte Sandbergh fasziniert. Er hatte als Biologe das theoretische Wissen, gesehen hatte er es allerdings noch nie. In Gedanken begann er, die alten Krankheiten durchzugehen, eine faszinierender als die andere. Eine fremdartiger als die andere. Aber das Edwards Syndrom konnte es wohl doch nicht sein. Damit hatte man meist noch nicht mal das erste Jahr überlebt. Vielleicht …
„Was spielt das denn für eine Rolle?“ Sie blinzelte. „Ich weiß nicht, wie man es nannte, und es macht auch keinen Unterschied. Tante Laneesha war vollkommen unselbständig. Gesprochen hat sie auch nicht, sagte meine Großmutter. Als mir meine Großmutter das erzählte, da hatte ich schlimm Mitleid mit Tante Laneesha, wissen Sie? So ein Leben führen zu müssen. In der Schule haben wir das ja auch so gelernt, von wegen Leidersparnis und Menschenwürde.“

Sie machte eine Pause und sah ihn an. „Heute gibt es etwa 41 Abbrüche täglich, allein in diesem Haus, Tendenz steigend. Wussten Sie das? Irgendwas stimmt nicht, und zack! Weg damit. Die Zentrale hat vor ein paar Tagen einen neuen Anbau angeordnet, um Kapazitäten zu schaffen. Na ja. Wo war ich?“ Sie blinzelte. „Jedenfalls ist meine Großmutter richtig wütend geworden, als ich von Mitleid sprach. Nein … nicht wütend. Eher traurig. Ich werde ihren Blick nie vergessen. Und das Leuchten in ihren Augen, als sie mir erzählte, wie viel Freude ihre Schwester verbreitet hat. Dass man in ihrer Nähe einfach nicht traurig sein konnte. Leid habe man vergebl-“
„Michelle, bitte …“ Sandbergh wurde heiß. Er schaute zur Tür und senkte seine Stimme. „Sie sollten aufpassen, was Sie sagen.“ Stimmen. Ein Beamter wurde vor der Tür postiert und bekam letzte Anweisungen. Also doch noch eine Wache. Und das ausgerechnet zur denkbar ungünstigsten Zeit.
„Bitte, Michelle, ich brauche Sie. Sammy braucht sie. Machen Sie keine Dummheiten“, flüsterte er.
Er sah ihr an, dass sie mit sich rang. Sie hielt Sammys Hand und starrte mit zusammen gekniffenen Lippen auf sein lebloses Gesicht. Sammys regelmäßiger Atem und das Zurechtrücken eines Stuhles vor der Tür waren lange Zeit die einzigen Geräusche.

„Dr. Sandbergh“, sagte sie schließlich laut. Er hielt die Luft an. „Mögen Sie Süßkartoffelauflauf?“ Sein verdutztes Gesicht ließ sie laut lachen. „Und ich spreche von richtigen Süßkartoffeln, nicht dieses künstliche Zeug.“
„Süßkartoffeln?“ Er verstand. Er hasste Süßkartoffelbrei. Auf der anderen Seite wusste er gar nicht, wie sie wirklich schmeckten. „Ich … liebe Süßkartoffeln“, lachte er erleichtert.
„Das wollte ich hören.“ Ihre Augen funkelten. „Heute Abend um acht bei mir. Und bringen sie Hunger mit.“ Sie strich über Sammys Hand und stand auf. „Ich muss jetzt arbeiten. Da sind noch andere Patienten, die versorgt sein wollen.“

2

Um halb neun wusste er, dass er sich nie mit Süßkartoffeln würde anfreunden können. Aber er hatte schon wiederholt feststellen müssen, dass ihm die chaotische, ungeordnete Textur natürlicher Lebensmittel suspekt war. Es war einfach nicht seine Welt, und so gingen sie zum Dessert über.

Sandbergh lauschte in die Stille des fensterlosen Apartments, vier Stockwerke unter der Erde. Er wusste seinen Wohnraum im Institut zu schätzen.
„Ich dachte immer, Sie hätten Kinder“, sagte er. Ihre Blicke trafen sich.
„Kinder? Ich? Nein.“ Sie lehnte sich zurück und nahm einen Schluck chinesischen Rotwein, den Sandbergh mitgebracht hatte. „Ich bin ein 20er Jahrgang. Sie sind doch auch nicht viel älter, oder?“
„2116“, antwortete er. „Meine Schwester ist auch eine 20er. Die Hormone machen ihr ganz schön zu schaffen.“
„Wem sagen Sie das?“ Sie fuhr sich mit den Händen über ihre beeindruckende Leibesfülle. „Aber immerhin hatte ich so freie Berufswahl. Ist doch auch was wert.“ Sie lächelte und stützte ihre Arme auf den Tisch. „Hat Sammy Kinder? Oder greifen die Maßnahmen bei ihm auch?“
„Nein, tun sie nicht“, lachte Sandbergh. „Ich dachte, jeder weiß, dass Sammy Nachwuchs hat. Sie leben im Institut.“
„Junge oder Mädchen?“, fragte sie und stutzte. „Sagt man das so? Junge und Mädchen?“
Sandbergh sah sie an. Diese einfache Krankenschwester traf genau den Punkt. Sie erstaunte ihn immer wieder.
„Was denken Sie denn?“, fragte er.
Sie nippte an ihrem Glas und kniff die Augen zusammen.
„Wissen Sie, normalerweise finde ich es nicht sehr nett, wenn man meine Frage mit einer Gegenfrage beantwortet. Aber in diesem Fall ist es wohl die beste Antwort, die man geben kann“, sagte sie nachdenklich. „Um diese Frage zu beantworten, werde ich auch von Tante Laneesha erzählen müssen. Sie ist der Schlüssel zum Menschsein.“
„Zum Menschsein?“ Wieder verblüffte sie ihn.
„Ja. Darum geht es doch, oder? Was ist ein Mensch? Wo beginnt der Mensch? Und es ist die Antwort, vor der die Leute da draußen solche Angst haben. Die Angst, etwas weggenommen zu bekommen, von dem sie gar nicht wissen, was es denn ist. Sie haben kein Wort dafür.“

Er starrte sie mit offenem Mund an. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen.
„Gucken Sie nicht so. Ich habe sehr viel gelesen, seit ich Sie das erste Mal getroffen habe. Und durch Sie habe ich mich an Tante Laneesha erinnert. Das hängt alles zusammen. So, als wäre Sammy ein … Bindeglied.“
Sie sah ihm in die Augen.
„Noch vor ein paar Monaten haben weder ich noch die Anderen gewußt, was da in Ihrem Institut geschieht, und plötzlich lag Sammy da, mitten auf meiner Station. Und redete mit mir. Können Sie sich den Schock vorstellen? Also, ich meine, er hat ja nicht wirklich gesprochen, aber ich habe ihn trotzdem verstanden, seine Symbole. So ist das eben, wenn zwei … Gleiche … aufeinander treffen.“
Er stutzte. „Gleiche?“
„Na, wenn zwei Lebewesen eben gleich sind, auf einer gleichen Ebene eben.“ Sie kaute auf ihrer Unterlippe, als sie nach den passenden Worten suchte. „Kommunizieren können sie dann immer. Das gilt eben auch für Menschen wie Tante Laneesha. Und sie war in ihrem Vermögen zu kommunizieren noch sehr viel eingeschränkter als Sammy, müssen Sie wissen. Aber trotzdem war sie ein Mensch, sie war gleich. Das hat keiner bestritten. Ein Mensch mit Rechten und Würde und all diesen großen Worten. Man hat ihr das alles zugestanden, mit Recht. Und warum? Aus einem einzigen Grund: Sie war ein Homo sapiens. Und da hört das Denken leider auf. Bei den meisten jedenfalls.“
„Homo sapiens?“ Er strahlte sie an, und ihre Augen leuchteten zurück.
„Ich sagte doch, ich habe viel gelesen“, lachte sie. „Sammy ist auch der erste Grund seit meiner Ausbildung, aus dem ich die Database wieder gestartet habe.“
Sie strich über das in den Tisch eingelassene Kontrollfeld. Die Wand hinter ihm erwachte zum Leben. „Ich wollte alles wissen über das Institut. Anfänge, Absichten und so was.“
Sandbergh drehte sich zur Wand.

Das Wanddisplay war ein älteres Modell. So weit gehen die Kastrationskompensations-Bemühungen also doch nicht, dachte er, aber das war jetzt unwichtig. Die Wand wurde bis auf den letzten Zentimeter ausgenutzt. Videodateien aus der Anfangszeit seines Instituts neben geöffneten Veröffentlichungen des vor fünfzehn Jahren gegründeten Instituts für Neoanthropologie, und dort, am Displayrand, eine geöffnete Nachricht von … von …

„Professor Rumbaugh-Harrington? Die Institutsleitung?“ Er konnte es einfach nicht fassen. „Sie stehen in Kontakt mit Susan?“ War das wirklich die Krankenschwester, die Sammys Katheterbeutel wechselte?
Sie schien sich zu amüsieren.
„Na klar. Irgendjemand musste mir doch erklären, worum es eigentlich geht, oder? Versteht doch sonst kein Mensch.“ Ihre Augen leuchteten.

Er lachte, fast schon hysterisch, und war gleichzeitig sprachlos. Er hoffte immer, diesen Anblick bei seinen Studenten zu finden. Stattdessen fand er ihn hier, außerhalb des Instituts, fern aller Wissenschaft, vier Stockwerke unter der Erdoberfläche im künstlich belüfteten Apartment einer 20er Krankenschwester.
Er wandte sich ihr zu, betrachtete ihr volles, rundes Gesicht, ihre weiche, braune Haut, und während er in Gedanken noch seine Krankenversicherung zum Teufel jagte, nahm er ihr Glas, prostete den Gleichen unter Gleichen dieser und aller Welten laut zu und leerte es in einem Zug.

3

Das Institut hatte in diesem Jahr sein hundertjähriges Bestehen gefeiert. Abseits, von der Öffentlichkeit ignoriert. Die Gründung war eher pures Glück gewesen. Die Individuen der Experimentalgruppe hatten damals schon in der fünften Generation existiert, dazu hatte man permanent vor dem Aus des Projekts gestanden, da die Spendengelder, die es unterhielten, kaum gereicht hatten.
Doch dann war die Rettung in Form eines rudimentär ausgeprägten Zungenbeins in Nyansa, einem Individuum der sechsten Generation, erschienen, und das Auftreten artikulierter Sprache war somit nur noch eine Frage der Zeit gewesen.
Die Individuen der neunten und zehnten Generation wiesen nun Aussehen und Verhalten auf, das sie von der Kontrollgruppe mehr unterschied als verband. Die Anfänge des Projektes gegen Ende des 20. Jahrhunderts – die Erschaffung einer Mensch-Bonobo Co-Kultur – waren auf vagen Annahmen begründet worden, revolutionär für diese Zeit, wahrscheinlich auch genauso unbedacht. Die integrative Konfrontation mit komplexer menschlicher Sprache und Kultur hatte jedoch eine Kaskade ausgelöst, die man zu Beginn des Projekts nicht erwartet hatte, und so kam es, dass Sammy, der sein Haarkleid zu großen Teilen verloren hatte, der einen Symbolschatz von zehntausend Wörtern beherrschte, die er zu Geschichten für seinen Nachwuchs neu zusammenfügte, Sammy, der die zweite Generation war, die Vokale artikulieren konnte und nur noch aufrecht ging, Sammy, der kein Affe mehr war, Sammy, der jedoch niemals ein Mensch werden würde, Sandbergh eines Tages die Frage aller Fragen stellte, und man nun darüber zu befinden hatte, ob ihm eine dem Menschen vorbehaltene Behandlung zustand oder ob er sterben musste.

4

„… möchte ich abschließend sagen, dass mir – in Anbetracht der begrenzten medizinischen Ressourcen, die seit Kriegsende zur Versorgung der Bevölkerung zur Verfügung stehen – die Tragweite der anstehenden Entscheidung vollstens bewusst ist. Doch wenn wir täglich darüber entscheiden, wem dieser Zugang offen steht, geht es doch niemals darum, wie intelligent oder intellektuell dieser Jemand ist, nicht darum, ob er eine Sprache artikulieren kann oder nicht. Ich behaupte: Es geht nicht mehr darum, ob er ein Homo sapiens ist. Es geht um etwas sehr viel Größeres, eine Art Gleichheit. Menschsein ist somit etwas, das man erreichen kann, etwas, das wir erreicht haben, etwas Abstraktes. Nichts Definitives. Nichts Definiertes. Eine Art … Ebene, die aber nicht über allem steht, sondern dazwischen verläuft. Eine … alternative Ebene, die man erreichen kann, aber nur, wenn die Umwelt es erlaubt. Eine Ebene, von der aus man die Welt erst begreifen kann. Eine Ebene, die nach Worten verlangt.“
Sandbergh hielt die Luft an und sah in die Gesichter der Kommissare. Hatte er ihre Fragen erschöpfend beantwortet? Er wusste nicht, was er ihnen noch sagen sollte. Seit einer Stunde saß er schon hier und sah die Anhörung nur um eine Frage kreisen: Dürfen wir das?

„Dr. Sandbergh, eine Frage noch.“ Er sah die ältere Frau an, die nun das Wort an ihn richtete. Sie hatte die ganze Zeit nicht ein Wort gesagt und nur in die unzähligen Berichte geschaut, die sich im Laufe der vergangenen zwei Anhörungstage angesammelt hatten. „Woran genau machen Sie fest, dass Sammy diese … unsere … Ebene erreicht hat?“, fragte sie und lehnte sich auf ihre Unterarme.

Sandbergh wurde heiß. Die Gänsehaut, die er seit jenem Tag immer bekam, sobald er daran dachte, blieb auch dieses Mal nicht aus. Das lag auch daran, dass er Sammy damals einfach stehen gelassen hatte, um sicher zu gehen, dass alles dokumentiert war. Sammy wartete noch immer auf eine Antwort. Verdammte Wissenschaft. Er atmete tief durch.
„In Dokument Rum14 zu Sammys Abstraktionsvermögen ist ein Vorfall dokumentiert, der alle Zweifel beseitigt hat.“ Er ließ den Kommissaren nicht die Zeit, die Datei erst zu öffnen und fuhr ungehindert fort. „Der Vorfall ereignete sich am 13. Februar 2150, vor fast genau zwei Monaten. Sammys Mutter Makeme war einige Tage zuvor im Alter von 57 Jahren an einem Hirntumor, einer Folge der hohen Strahlungswerte seit Kriegsende, gestorben. Es war nicht der erste Todesfall in der Gruppe, doch dieses Mal reagierte Sammy, dessen Krebs schon zu diesem Zeitpunkt Metastasen gebildet hatte, vollkommen anders. Er verstummte. Anfangs ging er noch oft zum Interaktionsdisplay, starrte jedoch nur darauf. Später verbrachte er ganze Tage am Fenster, seinen mobilen Zugang immer am Arm. Die Symbole, die er hin und wieder wählte, ergaben keinen Sinn. Außer, dass es sich um Fragen handelte, wussten wir nichts damit anzufangen. Auf Ansprache reagierte er nicht. Ich verbrachte in diesen Tagen jede Nacht in seinem Raum. Am frühen Morgen des besagten Tages wachte ich auf und sah, dass er wieder am Fenster saß. Mich anstarrte.“ Er schluckte. „Und dann begann er, die Frage zu stellen.“
Sandbergh schossen Tränen in die Augen. Er versuchte, sie weg zu schlucken, ohne Erfolg.
„Er musste sich heran tasten, denn er wusste zu Beginn noch nicht, wie er es fragen sollte.“
Stille.
„Er hatte noch … kein Wort dafür.“
Ihm stockte die Stimme.

„Dr. Sandbergh“, meldete sich die Frau noch einmal und strich dabei auf ihrem Display hin und her, „ich kann das Dokument gerade nicht finden, aber sagen Sie mir, spielen Sie auf den Vorfall an, bei dem Sammy …“, sie suchte weiter, ihre Hand wischte unentwegt von der einen auf die andere Seite, „… also sprechen Sie von der ersten dokumentierten Erwähnung des Konzept—“

„Der Tod, ja“, unterbrach Sandbergh die nicht enden wollende Frage. „Ich spreche von dem Tag, als Sammy fragte, was der Tod sei.“

5

Susan hatte ihn gerade erst über die Entscheidung informiert, als er schon das Krankenhaus betrat. Die Blicke bemerkte er diesmal gar nicht. Er nahm wieder die Treppe, aber nicht, weil er dem Personal aus dem Weg gehen wollte. Heute würde ihm kein Aufzug der Erde schnell genug sein. Er rannte, während die Audiodatei der Beschlussverkündung aus seinem Earpiece klang:

… kommen wir, in Zusammenschau der uns dargelegten Daten und Fakten, nicht umhin, dem Spezimen Sammy und seinen Nachfahren unverzüglich die unveräußerlichen Rechte eines jeden Menschen zuzusprechen. Eine entsprechende medizinische Behandlung ist somit ohne weitere Verzögerung anzusetzen. Desweiteren soll darauf hingewiesen werden, dass die Zubilligung dieser Rechte gewisse Pflichten mit einschließt. Inwieweit die Betroffenen diese umzu—
Er stoppte die Übertragung, als er auf den Gang einbog und Schwester Williams vor Sammys Tür sah. Sie sprach mit der Wache, die mal wieder gehen wollte.

„Michelle, haben Sie es schon gehört?“ Sie blickte zu ihm. Er war eindeutig zu laut für einen Krankenhausflur, aber das kümmerte ihn nicht. Ihn kümmerte nichts mehr.
„Wir haben es geschafft! Sammy hat es geschafft!“ Er atmete schwer, gestikulierte in Richtung Arztbüro und stützte sich dann nach vorne auf seine Oberschenkel, versuchte, wieder zu Atem zu kommen.
„Holen Sie Dr. Andrews, er soll die Behandlung starten, jetzt sofort“, keuchte er, „wir dürfen keine Zeit verlieren, da drin liegt ein Freund, der auf eine Antwort wartet. Und bei Gott, mich wird nichts mehr davon abhalten.“
Er richtete sich auf. Sein Blick fiel auf das Gesicht der Schwester. Ihre Augen …
„Was …“ Er blickte zu Sammys Tür. Zum Wachmann, der schweigend auf den Boden starrte.
Das Atmen fiel ihm plötzlich wieder schwer.
Er sank auf die Knie.
Er verstand.

Sammy wartete nicht mehr.
Er hatte seine Antwort.

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