Über die Angst

„Unsere Frauen“, so schreibt der Mann mit den deutschen Farben als Profilbild, „müssen beschützt werden.“ Meine Frage: Vor wem? beantwortet er mir so schnell, dass ich annehmen muss, er hätte nur auf die Frage gewartet: „Migrantenhorden, die mordend und vergewaltigend durch unser Land ziehen.“ Von flächendeckender Abschiebung aller Nicht-Biodeutschen schreibt er, ganz unverblümt, und wenn man beherzt durchatmet und dem ein oder anderen Link folgt, landet man nicht nur auf gewaltverherrlichenden, geschichtsrevisionistischen Seiten, die in patriotischer Handarbeit! hergestellte Uhren im Design der Schwarzen Sonne anbieten, sondern man bekommt, Dank Googles Algorithmen, auf unbestimmte Zeit Werbeanzeigen für Softair-Maschinengewehre namens Migrantenschreck HD 130 Superior, für höchste Ansprüche und ausgewiesene Kenner, Kaliber 9mm, 50 Schuss Munition inklusive in den Browser gespült — und damit ungewollt die Antwort auf eine Frage, von der ich gar nicht weiß, was in meinem Leben passieren müsste, um sie überhaupt formulieren zu können.

„Geh doch mal raus auf die Straße, dann merkst du schon, was da los ist!“, donnert es mir medial, auf allen Kanälen, entgegen. Das tue ich jeden Tag, und es dauert nie lange, bis ich es sehe. Da ist der junge Mann, der der verschleierten Frau, die nur gebrochen Deutsch spricht, zeigt, wo im Supermarkt das Vanilleeis liegt und beide lächeln. Da ist der alte Mann, der mich lachend und im Vorbeifahren vom Fahrrad herunter fragt, ob ich auch Pokémon fange, als ich auf mein Handy schaue. Da sitze ich in einem wild zusammengewürfelten Haufen im Biergarten und höre, wie die Menschen über alles reden, nur nicht über diese Angst, die doch angeblich überall lauert. Und manchmal sehe ich den jungen Somali, der immer alleine am Rhein sitzt, eine Flasche Cola neben sich, sich die Nase reibt und schnieft, selbst umarmt und auf’s Wasser starrt.

Das ist die Straße, auf die ich gehe, die durch mein Fenster in mein Leben dringt; das war und ist mein Leben, und wenn du nur genau hinsiehst, dann stehen die Chancen verdammt gut, dass das auch deine Straße, dein Leben ist: unaufgeregt, auf diese spießig-menschelnde Weise, vertraut, beruhigend, durchgeregelt. Deutsch eben. Aber das passt nicht in das Bild derer, die den Untergang prophezeien und im gleichen Atemzug eine Art proaktiven Patriotismus, der nun auch vor einer Blut-und-Boden-Ideologie nicht mehr halt macht, fordern, schnell gepaart mit einem Nationalismus, der schon im nächsten Moment in blinden, sehr altvertrauten, deutschen Hass umschlagen kann, und diese Art Hass, der traditionelle, der verbale, bildhafte, symbolisch überfrachtete, deutsche Hass, ist das Erbrecht des blutreinen Deutschen. Der Biodeutsche, der Angst hat, alles zu verlieren, lässt sich das letzte, was er hat, nämlich seinen jahrzehntelang unterdrückten Rassenwahn, nicht auch noch von einem Menschen mit wie auch immer geartetem Migrationsvordergrund wegnehmen, und am Ende steht rächender Fremdenhass als immer weiter um sich greifender Selbstläufer, der über eine Spirale der Ausgrenzung, Pauschalverurteilung und Frustration auf beiden Seiten in schockierende Gewalt mündet, von der man dann behaupten kann, man hätte es ja schon immer gewusst, oder wahlweise: man hätte keine andere Wahl gehabt.
Willkommen im Deutschland der Wiedergänger.

„Im Koran steht, man solle die Ungläubigen töten wo man sie findet!“, schreibt der Mann mit dem deutschen Profilbild, und ich denke: Ja, das steht da, sogar mehr als ein Mal. Doch statt mich zu töten oder wenigstens zu ignorieren, brachte mir vor 20 Jahren, als ich in einem tunesischen Krankenhaus tagelang über meine Großmutter wachte, die im Urlaub in ein Koma gefallen war, eine tiefverschleierte Frau einen Teller selbstgekochte grüne Bohnen, die eigentlich für ihren Mann im türlosen Zimmer gegenüber bestimmt waren. Was die Frau damals zu mir sagte, weiß ich nicht. Aber sie sagte viel in dieser fremden Sprache, von der der besorgte Deutsche nur das Allahu akbar kennt, und bevor sie ging, strich sie mir über die Wange und gab mir das Gefühl, doch nicht ganz so fremd und allein zu sein in diesem Land; und nun, 20 Jahre später, geht also eine verschleierte somalische Frau alleine auf der Straße, ihr Smartphone in der Hand, und hört arabische Gesänge, die man sofort für Koranverse hält und die es wahrscheinlich sogar sind, und man straft sie mit Blicken, aus Angst und Wut und Unwissen. Denn wer von ihnen weiß schon, wie es sich anfühlt, wenn man lange Zeit in einem vollkommen fremden Land gelebt hat, dann zurückkehrt und am nächsten Morgen von den Kirchenglocken geweckt wird, einem Klang, den man vorher verhöhnt hat, so wie es sich für ein atheistisches Kind der europäischen Aufklärung gehört. Und dann liegt man da und ist überwältigt von diesem Gefühl, das man vorher vom Hörensagen kannte, von dem man immer dachte, man wüsste, was es ist, es in diesem Moment aber zum ersten Mal wirklich spürt: Heimat. Ich gehöre zu denen, die wissen, wie er sich anfühlt, dieser Moment, in dem man es begreift; wenn ich Kirchenglocken höre, schließe ich seitdem die Augen, und auch die junge Frau tut das, deswegen muss sie ganz langsam und bedächtig gehen, und wenn ich das sehe, weiß ich: Wir haben ein gemeinsames Geheimnis, denn wir beide wissen, was Heimweh ist, wie sich Heimat anfühlt, wie viel Bedeutung und Sehnsucht und Erlösung in einem Klang liegen kann. Für mich sind es die Kirchenglocken, für sie sind es gesungene Koranverse. Ich sehe die Blicke der anderen, wenn sie ihr hinterher sehen, und ich weiß: Sie wissen nicht, dass Heimweh keine Religion hat.

Abends dann, in meiner Küche, es ist Sommer, die Fenster weit geöffnet, da lächelt meine Freundin plötzlich, und ihr Blick sagt, Da kommen sie wieder!, und von Weitem kann ich dann hören, wie sie lautstark und lachend meine Straße entlang schlendern, diese Männer aus Somalia, und ich lächle über das Ritual, diese Fremdheit, die da jeden Abend an meinem Fenster vorbeizieht, und plötzlich denke ich: Migrantenschreck HD 130 und frage mich wieder, wovor ein Mensch, der denkt, er bräuchte so etwas, wirklich Angst hat.

Ich möchte diesen Menschen fragen, ob er auf die Männer vor meinem Fenster zielen würde. Ich würde fragen, ob er denkt, diese Waffe könne dafür sorgen, dass auch die nächste Rucksackbombe fehlzündet. Ich möchte ihn fragen, ob er es nicht eigenartig findet, dass ein Mensch, der Angst und Schrecken verbreiten will, zu einer Polizeistation geht, wo er erschossen wird, bevor er seine Tat vollbringen kann. „Suicide by cop nennt man sowas in den USA“, will ich ihm sagen und fragen, ob er versteht, was das heißt. Und ich möchte ihn fragen, ob er mit seinem „Ausländer raus!“ nicht auch schon immer mich, meine Freunde, seine Schulkameraden gemeint hat ohne es auszusprechen, und wie es sich anfühlt, wenn man solche Dinge nun rufen kann.

All das frage ich mich und dann ich lächle nicht mehr, und meine Freundin sagt, „Was denkst du?“ — doch ich bin mir nicht sicher. Was muss ich denn denken, um verstehen zu können, was ich fühle, wenn ich sehen, lesen, hören kann, was passiert? Welche Fragen muss ich stellen? Lohnt es sich überhaupt noch, zu fragen, ist es nicht schon viel zu spät, hat es den richtigen Augenblick überhaupt jemals gegeben? Denn die Antworten, die mir mein Gegenüber geben würde, gehören in Wahrheit zu Fragen, die ich gar nicht gestellt habe, zu Fragen, die nur er hören kann; Fragen, die in einer Welt formuliert wurden, zu der ich keinen Zutritt habe und ihn nicht will; eine Welt, in der man zur Marionette diffuser Ängste wird, mit weit aufgerissenen Augen, in ohrenbetäubendem Lärm, während Andere grinsend die Fäden ziehen; eine Welt, die nicht die meine ist.

Das denke ich, als sie mich fragt, aber ich spreche es nicht aus. Stattdessen lächle ich doch wieder, irgendwie schaffe ich es, und dann stoße ich auf etwas an, Obama, Bach, Nietzsche, egal, und sie macht mit, obwohl sie mich durchschaut hat, und am nächsten Tag gehe ich los, zum Rhein, noch immer ohne Antworten, aber dafür mit einem Becher Kaffee, will mich in die Menge setzen, ich will abschalten und weiß gar nicht wie das geht — da sehe ich ihn wieder, diesen jungen Mann, mit dem ich noch nie ein Wort geredet habe, um den sich aber irgendwie alles dreht; ich gehe zu ihm, will mit ihm auf’s Wasser schauen, wenigstens das, und als ich mich setze, spüre ich seinen Blick, sehe, wie er sich unauffällig wegdreht, noch ein Stück von mir abrückt, drei Armlängen, dann vier, sicherheitshalber, denn man sitzt nicht zu nahe beieinander, das gehört sich nicht, und ich wundere mich nur noch kurz darüber, wie dieser Mensch so schnell so deutsch werden konnte.

4 Antworten zu „Über die Angst“

  1. Dieser Text hat mich sehr beeindruckt und zum Nachdenken angeregt. Ich mag deinen Stil sehr, und wie du dieses aktuelle Thema mit Fingerspitzengefühl behandelst, ist dir meiner Meinung nach sehr gut gelungen. Du hast auf jeden Fall einen weiteren regelmäßigen Leser 🙂
    Liebe Grüße

    1. Avatar von Irini Stivaktakis
      Irini Stivaktakis

      Vielen Dank für deine lieben Worte!

  2. Das ist der erste Beitrag, den ich von dir lese und ich bin beeindruckt! Du schreibst unglaublich und der Inhalt deines Textes ist unglaublich anspruchsvoll!

    1. Avatar von Irini Stivaktakis
      Irini Stivaktakis

      Und ich hab immer das Gefühl, ich schreibe total wirr.
      Vielen Dank für deine schönen Worte!
      Das macht Mut.

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